Margarethe Kastner liest

Die Prophezeiung der Wala

Vom Wasser zum Holz
Vom Holz zum Feuer
Vom Feuer zum Größenwahn
Vom Größenwahn zur Nacht
Von dieser Nacht zur Ewigkeit
Vermag ich zu sehen

Vom Wasser
Trink Mensch
Zum Holz
Fertige Speere gegen deine Feinde
und Boote die dich in andere Welten tragen

Vom Holz
geschlagen
Zum Feuer das wärmt
Fleisch zu einer Lebensgrundlage macht
den Weg nach Hause weist

Vom Feuer
zur Furchtbarkeit
zur Erkenntnis
zur Idee des ewigen Lichts
zur Kraft die jeden überallhin trägt
Zum Größenwahn

Vom Größenwahn
zu fortwährender Bewegung
zu einem Reichtum der vom Weltall zu erkennen ist
zu einer Zeit die rast
zur Sicherheit allgegenwärtig
alle Geister zu Diensten
zu einem Himmel mit immer weniger Sternen

Zur Nacht

Von dieser Nacht
schwarz endlos monoton und kalt
Zur Ewigkeit

© Federwerkstatt 2005
Jede Vervielfältigung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

André Stuchlik liest

In Jötunheim

Der Wald schneidet Grimassen
in den fetten Nebelschwaden
Lehrt einen Fürchten
von Grund auf

Im rostigen Moos
liegen schwere Bäume
zerfasert gebrochen
und doch aus Eisen

Manchmal sei es wie ein großes Atmen dort
das über dem polternden Prasseln zu hören ist
von den Kerlaugar
den Grenzflüssen eiskalt
zwei an der Zahl
zwischen Midgard und Jötunheim

Die Riesen
sie kamen von weit hierher
man kann ihre Marschroute sehen
wenn man sich dorthin wagt
breit so weit das Auge reicht
von weit von dort
wo nur blaues Eis sich Weg bahnt

Einige haben alles gefressen bis hierher
mit ihren riesigen Mäulern
über die Erde schabend
dicken Speichel sabbernd

Zähne lassen sich finden häusergroß
die ihnen im Blutrausch
aus ihren entzündeten Kiefern gebrochen
berichten Zeugen
die nicht verrückt wurden
beim Anblick der rotunterlaufenen Augen
der Kraft die alles zerstört

© Federwerkstatt 2005
Jede Vervielfältigung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Publius Cornelius Tacitus berichtet uns in seinem Werk „Germania“ um 98 n. Chr.: „Die Germanen glauben sogar, dass den Frauen etwas Heiliges und Seherisches innewohne.“ Hier kommt eine Seherin namens Wala zu Wort. Wenn sie eher einen anderen Namen erwartet hätten z.B. Vala, Völva oder Wölva, so spricht das für Ihre mythischen Kenntnisse. All diese Namen sind altnordischen Ursprungs und bedeuten „Frau mit Stab“, wobei der Stab das Symbol der Macht über das Übernatürliche war. Bischofsstab, Königszepter und auch der Zauberstab sind Überbleibsel derselben Symbolik in unserer heutigen Zeit.
Den Seherinnen damals sagte man nach, dass sie in Ekstase andere Welten besuchen können und daraus ihre Einsichten für diese gewinnen. Unsere Wala bleibt in dieser Welt, doch sie lotet sie aus bis ans Ende. Dass sie dabei kosmologische Erkenntnisse von der Expansion des Universums verwendet, mag man ihr in einer zeitgenössischen Edda nachsehen. Geblieben ist die Struktur eines visionären Monologs in der Völuspá, dem wohl berühmtesten Götterlied der Lieder-Edda, vorgeschrieben.
Doch gehen wir noch einmal kurz weg von der „Älteren Edda“ und sinnieren nach, was Tacitus mit diesem „sogar“ wohl gemeint hat!
Die wichtigste Quelle nordischer Mythologie ist die Schrift des isländischen Gelehrten und Politikers Sturluson Snorri (1179 – 1241). Er berichtet in seiner Edda von der Kosmologie der germanischen Welten, von Asgard, Midgard… und Jötunheim. Wer hatte als Kind nicht Angst vor Riesen? Trugen sie zottige Bärte und hausten in einem dunklen Wald? Jetzt wissen wir, wie diese Gegend heißt, Jötunheim. Die Welt der Riesen lag in den mythischen Anfängen im Osten und war glücklicherweise durch Flüsse von der Welt der Menschen getrennt. In dieser Bedeutung findet sich Jötunheim bei Snorri häufig. Später, als Jötunheim als literarischer Topos etabliert war, rückte es immer mehr nach Norden. Die Norweger haben einem Gebirgsmassiv diesen Namen gegeben. Jötun, altnordisch „Riese“, ist wertneutral. In dem Gedicht „In Jötunheim“ gehorchen die Riesen jedoch unserem naiv-kindlichen Klischee einer gewaltbereiten, feindlichen, triebhaften Macht.
(Anmerkung: Es gibt auch die Schreibweise Jötunn mit zwei n. Ich habe mich für ein n entschieden. Geschmackssache!)